Mary Kreutzer

Damit nicht alle TäterInnen straflos ausgehen

Buchbesprechung: Nakam. Jüdische Rache an NS-Tätern. (Jim G. Tobias/Peter Zinke: Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2000).

„Wie die Lämmer zur Schlachtbank“ – diese weitverbreitete Ansicht über die angeblich widerstandslose Vernichtung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, existiert trotz des vielfach belegten Kampfes von jüdischen PartisanInnen und Widerstandsgruppen gegen die NS-Gewaltherrschaft weiterhin und wird auch in so berühmten Standardwerken wie Raul Hilbergs Die Vernichtung der europäischen Juden weitertradiert.

Insofern ist das neuerschiene Buch von Zinke und Tobias ein Beitrag zum Versuch, mit diesem Vorurteil schluß zu machen und die Geschichte einer Gruppe von sogenannten „Rächern“ einem breiteren Publikum bekannt zu machen.

Rächer bleibt deshalb im Maskulin, da zumindest in den von Tobias und Zinke geführten Interviews und Recherchen nie von Rächerinnen die Rede ist. Daß bei den unzähligen Aktionen, die von der Nakam durchgeführt wurden, tatsächlich keine Frauen beteiligt waren, ist schwer zu glauben. Noch weniger, als am Foto des Umschlages mit dem Titel „Nakam-Aktivisten ...“ auch drei Frauen abgebildet waren. Wer diese Frauen sind, Itka (Nachname unbekannt), Toshia Bensolwicz und Anja (Nachname unbekannt) und welche Rolle sie innerhalb der Nakam spielten – bleibt ein Rätsel. Allerdings ist dem heiklem Thema jüdischer Rache in der Nachkriegszeit bis jetzt noch nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt worden, was dieses neu erschienene Buch trotzdem sehr verdienstvoller macht. Sie sprachen mit einer Reihe von überlebenden Kämpfern der Nakam und hielten ihre Aussagen fest; Dokumente existieren im Fall von in strenger Konspiration arbeitender Gruppen wenige, weshalb die Interviews besonders wertvoll sind.

1968 erschien die erste Publikation zum Thema: The Avengers von Michael Bar-Zohar, jedoch stimmen einige der Fakten, die er präsentiert, nicht mit den Interviews von Tobias/Zinke überein, bzw. fehlen Quellenangaben zu den aufgestellten Thesen.

In den 70er Jahren erschienen zwei weitere Bücher (Israels langer Arm von Janusz Piekalkiewicz und Forged in Fury von Michael Elkins) doch waren diese schlecht recherchiert, sensationslustig, und einige Fakten wurden verfälscht dargestellt.

Über ein halbes Jahrhundert lang schwiegen die Nakam-Mitglieder über die von ihnen durchgeführten Aktionen. 1996 bekannten sich Leipke Distel und Joseph Harmatz unter falschem Namen in einer Fernsehdokumentation zu den Anschlägen nach ’45, woraufhin die Staatsanwaltschaft Nürnberg die Ermittlungen gegen zwei Mitglieder der Nakam wegen versuchten Mordes erneut aufnahm um selbige kurz darauf wieder einzustellen. Als die beiden 1999 ihre wirklichen Namen preisgaben, wurde zum vierten und letzten Mal ermittelt – das Verfahren wurde erst im Mai 2000 eingestellt.

Es ging um den gescheiterten Giftanschlag am 14.4.1946 auf das Internierungslager Langwassser, in dem 12.000 bis 15.000 Häftlinge interniert waren, fast ausschließlich SS-Angehörige und NS-Prominenz. Einige Nakam-Mitglieder faßten den Plan, die Brötchen für die Gefangenen zu vergiften. Doch das Gift wurde verdünnt und so kamen die inhaftierten Nazis mit Magenschmerzen und Durchfallserkrankungen davon, 207 Nazis hatten gefährliche Vergiftungserscheinungen, ihre Mägen wurden ausgepumpt.

Angesichts der Tatsache, daß der Prozentsatz der in der Bundesrepublik rechtskräftig verurteilten NS-Täter im Promille-Bereich liegt, und fast alle NS-Mörder in der Bundesrepublik sowie in Österreich Karriere machten und bald wieder bevorzugt ihren alten Positionen vergleichbaren Posten erhielten, sind die Nürnberger Ermittlungen nichts als ein weiterer Beweis für die antisemitische Kontinuität nach ’45, sowie das Fehlen einer radikalen Entnazifizierung und Umerziehung der österreichischen und der deutschen Gesellschaft. Nürnberg, die Stadt der Reichsparteitage und der Rassegesetze ermittelt gegen zwei Holocoust-Überlebende. Der Historiker Michael Bar-Zohar bezeichnete die Ermittlungen als „Ein Beweis dafür, daß die Welt anfängt, den Holocaust zu vergessen.“

Nakam (hebräisch: Rache) hieß bereits während des Krieges eine von Abba Kovner geleitete Partisaneneinheit. Ab ’44 sollte dann der Kampf gegen die Nazis aus Osteuropa in die Städte und Dörfer des Feindes getragen werden. In Deutschland und Österreich agierten ’45 und ’46 mehrere Rächer-Gruppen, die aus Überlebenden der KZs und PartisanInnen bestanden.

Plan A sah Anschläge auf die Bevölkerung mehrerer deutscher Großstädte durch vergiftetes Trinkwasser vor. Zusätzlich zu Plan A wurde Plan B entwickelt, der sich gezielt gegen NS-Täter sowie SS- oder Gestapo-Gefangene richten sollte. Die Leitung der Jewish Brigade, einer Kampfeinheit innerhalb der britischen Armee, die im September ’44 gebildet wurde und von März bis Mai ’45 in Italien gegen die Nazitruppen kämpfte, stand den Plänen der Nakam skeptisch bis ablehnend gegenüber. Trotzdem solidarisierten sich einzelne Soldaten der Brigade mit ihnen und kooperierten finanziell, organisatorisch oder mit gefälschten Dokumenten.

Plan A wurde, wie wir wissen, nie durchgeführt. Die Gründe dafür waren vielseitig. U.a. landete die erste Ladung Gift auf ihrem Weg nach Deutschland, verpackt in 20 Dosen „Milchkonserven“ und einige Tuben „Zahnpasta“ im Mittelmeer – die Gruppe war verraten worden. Ob von rechtsgerichteten zionistischen Revisionisten, oder von der Hagana, die damals noch inoffizielle, spätere Armee Israels, die wie die Jewish Brigade Plan A ablehnend gegenüberstand, ist bis heute nicht geklärt.

So kam es nie zu Racheaktionen der Nakam gegenüber der deutschen und österreichischen Zivilbevölkerung. Die noch lebenden Mitglieder sind heute froh darüber und erklären, wie diese Rachegefühle („Sechs Millionen für sechs Millionen“) aus heutiger Sicht verstanden werden müssen: „[...] du mußt es mit den Augen derjenigen sehen, die aus den Krematorien schreien!“

Ein geplantes Attentat auf die 24 Angeklagten des Hauptkriegsverbrecherprozesses am Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, wo seit dem 20. November ’45 verhandelt wurde, scheiterte bereits im Vorfeld – die US-Armee hatte möglicherweise Hinweise erhalten und intensivierte die Bewachung in- und außerhalb des Gebäudes.

Einen Teil der Jewish Brigade, die nach dem Krieg in Tarvisio, Norditalien, stationiert war, bildete die 40-köpfige „Deutsche Abteilung“, eine verdeckt arbeitende Spezialtruppe der Hagana-Guerilla-Einheit Palmach. Die Mitglieder der „Deutschen Abteilung“ sollten in erster Linie Beweise für deutsche Kriegsverbrechen sichern und die Täter ermitteln. Doch der Drang zu Vergeltungsschlägen gegen die Kriegsverbrecher wurde immer größer, als sie mitansehen mußten, wie diese ungestraft unter den Augen der Alliierten das Weite suchten. „Wenn bereits ein Staat Israel existiert hätte, wäre den Schuldigen dort der Prozeß gemacht worden, doch es gab keinen Staat und die Täter machten sich aus dem Staub.“

Etwa 700 Täternamen konnten nach Informationen von Shoa-Überlebenden den entsprechenden NS-Vernichtungsaktionen zugeordnet werden. Man machte sich an die Arbeit.

In Tarvisio hatten sich einige hochrangige SS-Männer mit dem Einverständnis der Ärzte in einem Krankenhaus versteckt. Die Soldaten der Brigade entdeckten sie, machten ihnen den „Prozeß“ und erschossen sie. In der Nähe von München konnte ein weiterer Kriegsverbrecher, der Stellvertretende Leiter eines Vernichtungslagers, ausfindig gemacht und liquidiert werden. Monatelang verschwanden im Raum Klagenfurt, Innsbruck und Südtirol auf mysteriöse Weise SS-Offiziere, hochrangige Parteimitglieder und Gestapo-Beamte. Einige Nazis tarnten sich als jüdische Ex-Häftlinge – eine KZ-Aufseherin beispielsweise, die enttarnt und auf der Ladefläche eines Lastwagens erdrosselt wurde.

Schätzungen gehen von 100-300 Tötungen aus. Es wurden nur diejenigen liquidiert, bei denen hundertprozentig erwiesen war, daß sie sich an den Verbrechen beiteiligt hatten. In einigen Fällen konnte dies nicht bewiesen werden, die Angeklagten wurde “freigesprochen”.

Es kam auch zu spontanen Racheaktionen, als etwa eine Gruppe Brigadisten bei einer Autofahrt durch durch die österreichsichen Alpen zufällig auf zwei hochrangige SS-Männer trafen. Die beiden Totenkopf-Offiziere wurden verhört und anschließend in eine Gletscherspalte gestoßen. Deutschen wurden auf offener Straße das Hemd vom Leib gerissen. Kam eine SS-Tätowierung zum Vorschein, sezten die Soldaten der Brigade die Pistole an die Schläfe und erschossen ihn. „Wir haben damals schon nicht an die Alliierten geglaubt. In Nürnberg wurden ein paar hochrangige Nazis vor Gericht gestellt, aber am Holocaust waren Hunderttausende beiteiligt! Und nicht nur Mitglieder der SS, sondern auch viele Wehrmachtsangehörige. Viele Nazis haben nicht auf Befehl sondern freiwillig gemordet, denn an Antisemitismus herrschte ja kein Mangel.“

Auch wenn die Kritiker der Selbstjustiz innerhalb der Hagana und der Bricha (im April ’45 gegründete geheime Fluchthilfe-Organisation, welche die illegale jüdische Auswanderung nach Palästina unterstützte) immer zahlreicher wurden, kam es zu weiteren Vergeltungstaten, etwa von den Mitgliedern der Wiener Gruppe. Sie spürten Alois Gawenda, verantwortlich für den Tod tausender von Jüdinnen und Juden in Jugoslawien auf und warfen ihn mit einem Stein am Hals in einen See. Ein weiterer Nazi wurde in seinem arisierten Geschäft erschlagen. Im Wienerwald wurden nach einem nächtlichen Feldgerichtsverfahren ein Angeklagter mit einem Seidenstrupf erwürgt.

Andere jedoch hielten sich an die Anweisungen der Hagana, und übergaben nach dessen Aufspürung etwa Anton Burger, Eichmanns „Judenreferenten“ in Athen und Kommandanten des Lagers Theresienstadt, den Amerikanern, die ihn der tschechischen Justiz ausliefern sollten. Burger gelang jedoch die Flucht: er lebte bis zu seinem Tod im Dezember 1991 unbehelligt unter falschem Namen in Essen.

Als nach der Proklamation des Staates Israels am 14. Mai 1948 die Armeen Ägyptens, Jordaniens, Syriens, Libanons und Iraks den neuen Staat angriffen, beteiligten sich insgesamt 220.000 Holocoust-Überlebende am ersten arabisch-israelischen Krieg. Die meisten sogenannten Rächer kehrten zurück nach Israel und beteiligten sich an der Verteidigung des jungen Staates.

1949 kam es zum letzten den Autoren bekannten Versuch, Vergeltung zu üben: In Berlin-Spandau saßen die Kriegsverbrecher Rudolf Hess, Baldur von Schirach und Albert Speer im Gefängnis. Ihre Ermordung scheiterte u.a. an fehlenden Bestechungsgeldern für die Wachen und an der israelischen Regierung, die von dem Plan der konspirativen Gruppe Wind bekommen hatte und die sofortige Rückkehr nach Tel Aviv anordnete.

„Leider konnten wir nicht alles tun, was wir hätten tun sollen; alle jene zur Rechenschaft zu ziehen. Das bedauere ich.“ sagt Ollie Giveon, ehemaliges Mitglied der „Deutschen Abteilung“ ein halbes Jahrhundert später. Ein weiterer meint: „Die sechs Millionen wurden ermordet, ohne etwas gemacht zu haben. Ohne sie zu fragen, wer sie überhaupt sind. Das einzige was man von ihnen gewußt hat, war, daß die Juden sind, und das war genug, um sie zu töten. Also wo ist da die Gerechtigkeit?“