Die Ursprünge von Rassismus in Lateinamerika
Die unterschiedlichen Erscheinungsformen von Rassismus in Guatemala sind Teil einer Ideologie, die in ganz Lateinamerika im Zuge des europäischen Kolonisierungsprozesses (Ende des fünfzehnten bis zum ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts) Strukturen entwickelte, die bis heute in den Republiken des Kontinents aufrechterhalten werden. Der Aggressionskrieg der Spanier und Portugiesen begann mit relativ kurzen Eroberungsetappen, wirkte sich jedoch umso effektiver auf die Zerstörung des kollektiven Lebens der militärisch besiegten Bevölkerungen aus, die, niedergerafft durch von den Aggressoren mitgeschleppte infektiöse Krankheiten (Pocken, Grippe, etc.) gezwungen wurden, die christliche Taufe anzunehmen. Parallel zur Etappe des Raubfeldzuges an Land, Reichtümern und Freiheiten, eigneten sich die Aggressoren als wichtigen Teil der Kriegsbeute auch die Frauen der Besiegten an. Die ersten Kontakte zwischen europäischen Männern und Indígenas [1] bestanden in der Vergewaltigung der Frauen, und später in der zeitlich unbegrenzten Vergewaltigung als ein Ausdruck der unterschiedlichen Formen von persönlicher Unterjochung, denen die Totalität der Bevölkerung ausgesetzt war und welche ihren Anfang in der Sklaverei hatten, sich jedoch fortpflanzten in den Systemen der encomiendaDie encomienda bestand in der Konzession der BewohnerInnen eines bis mehrerer Dörfer oder gar einer Mikroregion für ein Individuum: den encomendero. Dieser erhielt dadurch das Recht auf Tributzahlungen „seiner“ Indígenas: Textilien, Agrarprodukte, Metalle usw., später auch Geld und direkte Arbeitskräfte. Der spanische König verlangte im Gegenzug vom encomendero ein Pferd, Waffen und Militärdienst. Außerdem hatte dieser die Bevölkerung zu christianisieren. Die Aufteilung (repartimiento) von Indígenas in encomien [2], des repartimiento [3], der mita, [4] der Zwangsarbeit, des Tributes, usw. Dem aus brutaler Gewalt entstandenen mestizaje [5] folgte somit jener, der sowohl aus der Situation ökonomischer Ausbeutung und gesellschaftlicher Ausgrenzung als auch der absoluten Wehrlosigkeit der jungen Indígenas gegenüber ihren zuerst spanischen oder portugiesischen, später auch mestizischen Herren resultierte.
Die Reiseroute des Rassismus
Als Zentren und Ausgangspunkte der kolonialen Aggression bestimmten Häfen, Städte und kleinere Ortschaften, sowie Plantagen, Minen und Ansiedlungen rund um die Haciendas, die geografische Gestaltung der neuen Provinzen und zwangen die Bevölkerung in bestimmten Niederlassungen zu leben, die ab nun als Orte der Arbeit, des mestizaje und der permanenten Ungleichheiten funktionierten. Die aus solch ungleichen Beziehungen geborenen Kinder litten unter der Geringschätzung oder Ablehnung ihrer Eltern, da sie mit ihrem Äußeren an die Unterschiede erinnerten, die Leid für die Eltern und für die Mestiz@s bedeuteten. Mit der Zeit versetzte der Zustand, im gesellschaftlichen Niemandsland gestrandet zu sein, die Mestiz@s in einen Gefühlszustand ständiger Unzufriedenheit mit ihrer sozialen Umgebung, welche sie nicht genau verstehen konnten, sowie mit sich selbst und vor allem mit ihrem Äußeren, wenn die Ähnlichkeit mit ihrer indigenen Mutter überwiegte.
Als Konsequenz der hohen Sterberate der lokalen Bevölkerung, welche die Spanier mit ihren brutalen Methoden auf den Antillen auslösten, führten die Europäer als Lösung dieses Problems und als weitere Bereicherungsquelle den Sklavenhandel ein. In großer Zahl wurden AfrikanerInnen vom Golf von Guinea in Äquatorialafrika bis zu den Häfen und Sklavenmärkten der Karibik und der brasilianischen Küsten gebracht, von wo aus sie an verschiedenste Orte des amerikanischen Kontinents verteilt wurden. Die tragische Situation dieser gewaltsam verschleppten und in Handelsware verwandelten Bevölkerung stellte sie auf die unterste Stufe der sozialen Hierarchie. Ihr massiver Einsatz auf den Zuckerrohr- und Tabakfeldern, sowie in den Minen und für gewisse persönliche Dienstleistungen öffnete den Herren und ihren Zwischenhändlern die Türen, um die Sklavinnen zu vergewaltigen, aber auch um in Kontakt mit der ebenfalls ausgebeuteten indigenen Bevölkerung zu kommen, was auch sexuelle Beziehungen zwischen Frauen und Männern beider Gruppen ermöglichte. Die Früchte dieser Beziehungen erhielten unterschiedliche Bezeichnungen: Mulattinnen und Mulatten (Kinder aus Verbindungen weißer Männern mit afrikanischen Frauen) und Zambos (Kinder von Indígenas mit AfrikanerInnen). Nach der Selbstbeschreibung basierte die koloniale Gesellschaft auf drei menschlichen Säulen: die sogenannten Weissen, Indios und Schwarzen. Es unterschieden sie die drei Hautfarben sowie die Gesamtheit der somatischen Eigenheiten (Größe, Muskulatur, Art und Farbe der Haare, der Haut und der Augen, usw.). Zu diesen objektiven körperlichen Unterschieden summierten sich jene der Stellung innerhalb der sozialen Hierarchie entsprechend dem Grad der Ausbeutung, dem jede Gruppe und jede Person indigener oder afrikanischer Herkunft unterworfen war, laut Kriterien, die sich je nach geografischer Region änderten, je nach Überfluss oder Mangel an verfügbarer Arbeitskraft und der Art der benötigten Arbeit, nach Nähe oder Ferne von Nahrungsquellen, nach Entfernung zu den wichtigen Städten und den Häfen, so wie je nach Schwierigkeitsgrad der Verkehrswege und Kommunikationsmittel, etc.
Der Maßstab der sozialen Schande
Ausgehend von den vorhin aufgezählten Punkten gab es eine Reihe von Überzeugungen, die Maßstäbe und Unterschiede festschrieben, die heute nicht nur irrational sondern absurd erscheinen. Jedoch waren sie damals unanfechtbare und fixe Bestandteile der gesellschaftlichen Überzeugungen. Was soweit ging, dass im gesamten Territorium unter spanischer Herrschaft eine Skala der gesellschaftlichen Stellung eingeführt wurde, basierend auf den Hautfarben weiß, dunkel und schwarz, wovon man in einigen Regionen bis zu 16 mögliche Kombinationen ableitete, die andere unzählige koloniale Kasten innerhalb der Hierarchie der globalen Gesellschaft bezeichneten (vergl. Pérez de Barradas, J., Los mestizos de América, Cultura Clàsica y Moderna, Madrid, 1948) und sie in ein Regime der pigmentocracia [6] (vergl. Lipschutz, Alejandro, El problema racial en la conquista de América, Siglo XXI Editores, S.A., México, 1975) einspannte. Entsprechend dieser Vorstellungen war die Farbe der Weißen ein Symbol für Güte, Reinheit und Schönheit und wurde beschmutzt und verdunkelt, wenn sie sich mit der kupfernen Farbe der Indígenas vermischte, und/oder ging unter mit der schwarzen Farbe der Schwarzen.
Chronisten und Reisende des 17., 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts beschreiben die Vehemenz, mit der die Mitglieder aller Kasten ihre Position über jene, die sie für minderwertiger hielten, bestätigten und mit allen Kräften vorzutäuschen versuchten, jenen anzugehören, die sich auf dieser Skala über ihnen befanden. Auch wenn am Ende der spanischen Herrschaft unter der Bevölkerung die strengen Kastenunterschiede ihren Sinn verloren — es waren die Unabhängigkeitskriege, die dazu beitrugen, viele der Trennlinien aufzuheben — so überlebten die Entfernungen zwischen Weißen, Mestizen, Indígenas und Schwarzen, da jede dieser Kategorien innerhalb einer grundlegenden Aufteilung zwei gesellschaftlichen Blöcken angehörte. In der ersten Gruppe zählte die konkrete Position, welche auf sozio-ökonomischem, politischem, kulturellem und religiösem Terrain sowohl die kolonialen Eliten, bestehend aus Spaniern, ihren direkten, indirekten oder imaginierten (aber einkommensstarken) Nachkommen (in Mexiko und in Zentralamerika „Criollos“ genannt) und aufgestiegene Mestizen oder die schwachen Mittelschichten, sowie die armen urbanen und ruralen Sektoren, einnahmen.
Im zweiten gesellschaftlichen Block befanden und befinden sich nach wie vor die Mitglieder der zahlreichen unterschiedlichen ethno-linguistischen Gruppen Amerikas sowie die Nachfahren jener afroamerikanischen Kulturen, die von den USA ausgehend bis Uruguay und Argentinien zerstreut wurden, mit einer sehr starken Präsenz in den an die Karibik angrenzenden Gebieten, sowie an den Atlantikküsten Brasiliens und jenen des Pazifiks von Kolumbien bis Peru. Die Segregation der Mehrheit der Indígenas und Schwarzen ist zum Großteil wirtschaftlichen, soziokulturellen, religiösen, technologischen und vor allem informativen Charakters. Ich verwende den Begriff „Information“ als weit gefassten Begriff, er umschließt somit nicht nur die Ereignisse lokalen, regionalen und globalen Charakters, sondern auch die kulturelle, künstlerische und technologische Produktion der verschiedenen Zivilisationen und besonders der westlichen, die, obwohl sie die unmittelbarste globale Herrschaft darstellt, mit Vorliebe die trivialsten, brutalsten und inkonsistentesten Aspekte ihrer Produktion verbreitet.
Die kolonialen Spuren in den zeitgenössischen Universitäten Die Anfänge und die ersten universitären Erfahrungen
Die Real y Pontificia Universidad de San Carlos de Guatemala [7] wurde per königlichem Dekret von Karl dem II. am 31. Jänner 1676 gegründet und war somit nach Santo Domingo, Mexico und San Marcos de Lima die vierte Universität Amerikas. Ihre Funktion bestand in der Produktion qualifizierten Personals für die Bereiche Administration, Judikatur sowie kanonisches und Zivilrecht für die spanische königliche Bürokratie und die kolonialen Eliten im gesamten Gebiet des Generalkapitanats „Goathemala“, welches von den gegenwärtigen mexikanischen Staaten Chiapas und Tabasco bis zu den Grenzen Costa Ricas mit den Gebieten Veraguas und des Darién in der gegenwärtigen Republik Panama reichte.
Die San Carlos Universität wurde von Mönchen des Dominikanerordens geleitet, die mittels der Lehre von Theologie und kanonischen Rechts für die Erhaltung und Verbreitung der Ideologie der spanisch-katholischen Monarchie sorgten. Gleichzeitig konnte sie sich auf eine überstaatliche und unantastbare Instanz berufen: das Tribunal des Heiligen Amts der Inquisition.
Somit waren ihre Lehrer und Schüler die Träger des kolonialen Status Quo, der sowohl sie als auch die sie beschützende Institution mit Privilegien versah. Erst gegen Ende der Kolonialzeit erreichte Guatemala ein Hauch von Aufklärung. Lehrer und Schüler verlangten und erreichten eine Reform, die die Einführung von Lehrstühlen der Naturwissenschaften ermöglichte, für deren Lehre erstmals experimentelle Methoden angewandt wurden.
Die der Unabhängigkeit vorausgegangenen Schritte stützten sich auf die Ideen der französischen Enzyklopädisten und der Gründer der Vereinigten Staaten von Amerika, welche wichtigen Teilen der intellektuellen universitären Elite entsprachen. Diese Ideen wanderten zunächst durch das Sieb der Klasseninteressen und -vorurteile und wurden dann von den erwähnten Eliten ihren politischen Projekten angepasst. In diesem Sinn akzeptierte man für das neue, im Entstehen begriffene Land nur gewisse Änderungen und war überzeugt davon, dass die soziale Struktur in den althergebrachten Bedingungen verbleiben müsse. Sowohl die konservative als auch die liberale Partei entsprachen in vielen Aspekten den jeweiligen Interessen und Ambitionen der Criollo- oder Mestizen-Führer. Beide wurden von zivilen Notabeln oder hohen Militärs geführt, die nach der Erreichung der Unabhängigkeit von Spanien (ab dem 15. September 1821) das neue Land, „Vereinigte Provinzen Zentralamerikas“, in einen aussichtslosen Bürgerkrieg stürzten, der es schwächte und in die fünf aktuellen zentralamerikanischen Republiken fragmentierte.
Die wirtschaftlichen und ideologischen Grundlagen des Rassismus
Als Konsequenz der Trennung von Spanien verlor die Universität San Carlos die Attribute „königlich“ und „päpstlich“. Kurzfristig wurde sie zu einer laizistischen Institution, verfiel jedoch ab Mitte des 19. Jahrhunderts unter den konservativen Diktaturen in die intellektuelle Stagnation. Die liberalen Diktaturen, die mit nur kurzen Unterbrechungen zwischen 1871 und 1944 folgten, förderten zwar eine universitäre Ausbildung, die verspätet und fragmentiert einige der wissenschaftlichen und technischen Fortschritte des Auslandes einführte, ließen jedoch keinerlei Änderungen betreffend gesellschaftlicher Aspekte und somit des kolonialen Schemas zu.
Das ist v.a. darauf zurückzuführen, daß seit dem Ende des 16.Jahrhunderts das Generalkapitanat „Goathemala“ und, seit Anfang des 19. Jahrhunderts die Republik Guatemala von den Exporten eines oder sehr weniger Agrarprodukte, die mit wenig oder gar keiner Veränderung von Indígenas erzeugt wurden, abhängig war. Auf den internationalen Markt gelangten die Produkte über die Metropolen, die sich das Recht reservierten, die Quoten und die Einkaufspreise festzusetzen. Der Export von Kakao, Anilin [8] und Grana [9] hielt die Beziehungen zu Spanien aufrecht.
Für die ab 1871 an die Macht gekommenen liberalen Regierungen wurde Kaffee zum Exportgut Nummer eins. Um eine massive Produktion zu erreichen, wurde die indigene Bevölkerung zu Zwangsarbeit, sowohl in der Landwirtschaft als auch im Straßenbau gezwungen. Exportiert wurde in erster Linie nach Hamburg und Bremen, bis diese Handelsbeziehungen durch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts zunächst eingeschränkt und später gänzlich unterbrochen wurden. Die niedrigen Gehälter der Indígenas, auf deren Arbeit sich der gesamte Reichtum des Landes begründete, und ihre gewaltsame Diskriminierung führten zu sozialen Spannungen. Um das politische Überleben zu sichern, verließ sich das System auf die Diktaturen der konservativen und liberalen Ladino-Eliten, die sich den mächtigen Abnehmern ihrer Produkte politisch und kulturell unterordneten, auch wenn die politischen Verfassungen Guatemala als einen freien, demokratischen und unabhängigen Staat deklarierten.
In jenen Jahren wurden mehrere Abschlussarbeiten an der öffentlichen Universität San Carlos geschrieben, in denen die These verteidigt wurde, dass die Indígenas in jedem Sinn minderwertig seien und einen Stolperstein für den Fortschritt des Landes darstellten. Die europäische Immigration solle gefördert, Indígena-Frauen von europäischen Männern geschwängert und ein produktiverer Mestizaje erreicht werden. Zwei dieser Arbeiten wurden sogar ausgezeichnet. [10] Das geschah in den 1920er und 1930er Jahren, als die US-Präsenz mit verschiedenen Unternehmen, wie z.B. des Bananenkonzerns United Fruit Company immer stärker wurde und bis 1960 ganz Zentralamerika politisch und wirtschaftlich dominierte.
Revolution und Konterrevolution
Zwischen 1944 und 1954 erlebte Guatemala ein politisches Erwachen und begann einen demokratischen Prozess der Suche nach besseren Möglichkeiten sowohl für eine zahlenmäßig eher geringe Arbeiterklasse, da die Industrie kaum entwickelt war, als auch betreffend einer Agrarreform, die in den kurzen zwei Jahren ihrer Gültigkeit grundlegende Veränderungen im Landbesitz hervorbrachte und somit dem Großteil der Bauern, mehrheitlich Indígenas, zugute kam. Ein weiteres Kapitel des Kalten Kriegs bestand in den gemeinsamen Verschwörungen — intern — der Rechten und — extern — der United Fruit Company und des US-State Departements, die 1954 im Sturz der demokratischen Regierung von Jacobo Arbenz Guzmán gipfelten.
Die folgenden Regierungen der Rechten und des Militärs versperrten alle Wege der politischen Partizipation der verschiedenen städtischen und ländlichen Bevölkerungssektoren und öffneten somit das Tor für den Guerillakampf. Dieser Krieg dauerte 36 Jahre, und die Ursachen, die ihn auslösten, sind auch heute noch — trotz der Friedensabkommen — nicht beseitigt. Die Universität San Carlos (autonom und staatlich seit 1944) machte zwar betreffend ihrer akademischen Qualität enorme Fortschritte, bewahrte jedoch Abstand gegenüber Themen von gesellschaftlicher Relevanz.
Seit Ende der 50er Jahre wurden im Land Privatuniversitäten von verschiedenen rechten, religiösen (Jesuiten und Protestanten), und anderen an US-Interessen gebundenen Sektoren gegründet, welche die StudentInnen der Mittelschicht der öffentlichen Universität San Carlos erfolgreich köderten. Letztere erlebte in den schlimmsten Jahren der Repression (1975 - 1985) die Ermordung, Folter, und das Verschwindenlassen durch das Militär sowie das Exil ihrer besten StudentInnen und ProfessorInnen, was auch den Niedergang ihrer akademischen Effizienz und ihres Prestiges mit sich brachte. Heute, im Jänner 2002, ist die San Carlos im wissenschaftlichen und technischen Bereich unfähig die Bedürfnisse ihrer 75.000 StudentInnen zu decken und gravierende Korruptionsfälle zu lösen. Für die ehrgeizigsten Sektoren der Mittelschicht gibt es auch eine rechtsextreme Universität, in der das neoliberale Modell gepredigt wird, und die eindeutige faschistische und militaristische Merkmale aufweist.
Die Diskussion ist offen
Die Analysen der Rechten ab 1954 fallen auf. Darunter befindet sich z.B. eine Arbeit von Richard N. Adams, die zeitgleich mit jener von Joaquín Noval, Mitglied des Zentralkomitees des PGT (Kommunistische Partei Guatemalas), im universitären Verlag der Universiät San Carlos (1967) erschien. Beide wollen einen langsamen und unaufhaltsamen Prozess des Sterbens der indigenen Kultur und deren Aufgehen in einer angeblich existenten lateinamerikanische Kultur erkennen. Dies geschehe über einen Prozess der „Ladinisierung“, [11] der die industrialisierten und — zumindest für Adams — offen kapitalistischen Gesellschaften zum Vorbild habe.
Ab 1962 begannen die Guerillakämpfe und die Militärrepression und damit wurde die Suche nach kohärenten Erklärungsmodellen der sich dramatisch zuspitzenden sozialen Situation vorrangig. Im April und im Juni 1970 erschienen Guatemala: una interpretación histórico-social (Siglo XXI Eds., México) von Carlos Guzmán Böckler und Jean Loup Herbert und La Patria del Criollo (Editorial Universitaria, Guatemala) von Severo Martínez Peláez. Da alle drei Autoren zu dieser Zeit an der San Carlos unterrichteten und forschten, begannen die Diskussionen innerhalb derselben, erreichten bald wichtige Teile der gesamten Gesellschaft und schlossen zum ersten Mal auch Indígena-Intellektuelle der verschiedenen ethnolinguistischen Gruppen mit ein. Martínez´ Erklärungsversuche, beginnend mit der kolonialen Gesellschaft, weisen trotz ihres angeblich marxistischen Ansatzes immer wieder Rassismen auf. Er bestätigt die angebliche Minderwertigkeit der indigenen Kultur und Lebensform ab der ersten Konfrontation mit den spanischen Erobererbanden und glaubt — wie auch Noval — dass ihre Situation der Unterdrückung durch einen Prozess der Proletarisierung überwunden werden würde, mit dem Ziel ihrer Teilnahme an der Revolution, welche die Bourgeoisie stürzen werde.
Guzmán Böckler und Herbert gehen ihrerseits von der Analyse der grundlegenden Elemente aus, welche die indigenen Gruppen Guatemalas mit dem zivilisatorischen Prozess Mesoamerikas und mit den radikalen Brüchen, die als Konsequenz des europäischen Angriffes erlitten wurden, verbinden. Sie analysieren die Dualismen, welche bei der Gegenüberstellung von Indìgenas und Ladin@s als zwei verfeindete Geschwister erscheinen, die jedoch das gemeinsame Produkt des kolonialen Regimes sind. Jedoch ist sich die/der Indìgena ihrer/seiner historischen Identität, Lebensform und cosmovisión [12] bewusst, während die/der Ladin@ ein gesellschaftlicher Paria auf der Suche nach einer Identität ist, die sie/er nicht finden kann, da sie/er im Versuch dem Indio und allem indianischen zu entkommen, in Wirklichkeit vor sich selbst flieht und in fremden, fernen und unerreichbaren Modellen jenes authentische Wesen sucht, das ihr/ihm das System verweigert. Guzmán Böckler und Herbert versuchen nicht, die Tiefe der sozialen Spaltungen und die Klassendifferenzen abzustreiten, jedoch sehen sie es als unentbehrlich an, die Variablen zu analysieren, welche durch die Ethnizität in all ihren Verwicklungen und Abgründen genauer zu betrachten sind, vor allem in jenen Gesellschaften, in denen die Kolonialzeit tiefe Spuren hinterlassen hat. Diese Debatte ist in Guatemala nach wie vor nicht abgeschlossen und sie wird heute mit einer immer größeren Teilnahme der Mayas der Gegenwart geführt.
[1] Indígenas: indigene Bevölkerung. In Guatemala ist der Begriff „Indi@“ abwertend konnotiert und wird im rassistischen Sprachgebrauch gleichgesetzt mit: schmutzig, faul, hinterlistig, usw. Der Autor verwendet Begriffe des kolonialen Sprachgebrauchs für alles, was mit dieser Zeit und damit auch mit der Gegenwart zusammenhängt. „Um eine rassistische Gesellschaft zu analysieren, muss ich die rassistischen Begriffe verwenden. Ich kann nicht von Musik sprechen ohne die Noten zu erwähnen.“ schreibt er und verwendet auch Begriffe wie „Schwarze“ in diesem Sinn. In der Selbstbezeichnung gibt es auch innerhalb der Indígenas verschiedene Termini, beispielsweise wird die Bezeichnung „Maya“ vor allem von indigenen Organisationen verwendet, wobei dieser Bezeichnung je nach Zusammenhang auch „und Xinca“ beigefügt werden muss, da die Xinca eine eigene ethno-linguistische Bevölkerungsgruppe in Guatemala darstellen, die keine der 22 Mayasprachen sprechen, sondern xinca. Einige interessante Beiträge zu dieser Diskussion wurden in einem 1999 erschienen Sammelband: Racismo en Guatemala? Abriendo el debate sobre un tema tabú von Clara Arenas, Gustavo Palma und Charles Hale in Guatemala herausgegeben.
[2] das war integraler Bestandteil der conquista und der „Pazifizierung“ der eroberten Gebiete. Encomienda und repartimiento stellen gemeinsam eine der verschiedenen kolonialen Formen der Ausbeutung dar.
[3] Die encomienda bestand in der Konzession der BewohnerInnen eines bis mehrerer Dörfer oder gar einer Mikroregion für ein Individuum: den encomendero. Dieser erhielt dadurch das Recht auf Tributzahlungen „seiner“ Indígenas: Textilien, Agrarprodukte, Metalle usw., später auch Geld und direkte Arbeitskräfte. Der spanische König verlangte im Gegenzug vom encomendero ein Pferd, Waffen und Militärdienst. Außerdem hatte dieser die Bevölkerung zu christianisieren. Die Aufteilung (repartimiento) von Indígenas in encomiendas war integraler Bestandteil der conquista und der „Pazifizierung“ der eroberten Gebiete. Encomienda und repartimiento stellen gemeinsam eine der verschiedenen kolonialen Formen der Ausbeutung dar.
[4] Die mita bestand zu Kolonialzeiten in einer Auslosung und Zuteilung, welche bestimmte, wieviele Indígenas an öffentlichen Arbeiten mitwirken mussten. In Perú wurden als mita die von den Indígenas zu leistenden Tribute bezeichnet.
[5] Mestizaje beschreibt die (gewaltsame) „Mischung“ von Indígenas und Spaniern. Die Mestiz@s, also das „Produkt“ der gewaltsamen Kolonisation beschreibt Guzmán Böckler als doppelte Flüchtlinge: sie flüchten nicht nur vor sich selbst, sondern auch vor der Mutter, die Indígena ist. Die Trennung zwischen Mestiz@s, in Guatemala und Teilen Mexikos auch Ladin@s genannt, und Indígenas ist Teil der kolonialen Ideologie um 1820/21 (Unabhängigkeitserklärung). Ein dritte kleine Gruppe definiert sich heute noch selbst als „weiß“, als Criollos. Marta Casaús hat dazu 1992 eine exzellente Studie veröffentlicht: „Guatemala: Linaje y Racismo“. (Interview mit Guzmán Böckler am 21.11.2001 in Guatemala Ciudad).
„Die/der Ladin@ definiert die Unterschiede zu den Indígenas als naturgegeben und somit als unveränderbar; sie sind das unantastbare Erbe, das ihre Überlegenheit und die Minderwertigkeit der“Indios„festschreibt. Der Trost der/des armen Mestiz@s ist es, wenigstens kein Indio zu sein. Das ist schmerzvolle akutuelle Realität. Über diese Basisideologie stülpt die Gruppe der Ladin@s je nach Epoche, die liberalen oder konservativen, linken oder rechten, neoliberale oder neu-linken Ideologien.“ (Guzmán Böckler)
[6] Pigmentocracia: „Die Verarmung, die durch die Wirtschaftskrise des 18. Jahrhunderts ausgelöst wurde, verschärft die sozialen Kämpfe; in diesem Jahrhundert kristallisiert sich die ’pigmentocracia’ heraus [Lipschütz], d.h., dass jede Stufe der sozialen Funktionen mit einem Spektrum an rassischen Farben korrespondiert.“ (aus: Guatemala: una interpretación histórico-social Carlos Guzmán-Böckler, Jean Loup Herbert, Siglo XXI, 3. Ausgabe 1972, S:135).
[7] Königliche und päpstliche Universität San Carlos von Guatemala
[8] Anilin: Ausgangsstoff für viele Verbindungen, wie Farbstoffe (z.B. Anilin-Blau), Arzneimittel, Kunststoffe, Photochemikalien.
[9] Grana: Blattläuse zur Gewinnung eines scharlachroten Farbstoffes.
[10] Gemeint sind die Magisterarbeiten von Miguel Angel Asturias, dem guatemaltekischen Literaturnobelpreisträger, und von Jorge del Valle Matheu
[11] Ladinización: Ablehnung der indigenen Herkunft, Kultur, Sprache und Identität
[12] Cosmovisión: Weltanschauung der Mayas, die jedoch auch religiöse, gesellschaftliche und ökologische Aspekte miteinschließt und nicht nur im engeren Sinn von Ideologie zu verstehen ist.
Übersetzung aus dem Spanischen: Mary Kreutzer.