Daß „Wahrheit ein Kulturwert“ sei – an dieser Behauptung wird wohl niemand Anstoß nehmen. Bei Rickert, dessen vor einem halben Jahrhundert geschriebene Wertphilosophie: „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“, obwohl hier in Amerika so gut wie unbekannt, doch indirekt (namentlich durch Münsterbergs [1] Bücher) [2] die Kulturphilosophie Amerikas geworden ist, und der den Ausdruck und die Theorie der „cultural values“ „geschaffen“ hat, kann man den Satz: „Wahrheit ist ein Kulturwert“ schwarz auf weiß lesen.
Niemand nimmt daran Anstoß. Das ist der Skandal.
Denn etwas als „Kulturwert“ ansprechen, heißt: es tolerieren, gleichgültig, ob man es für wahr hält – nein, es respektieren, nein, sich daran bereichern, obwohl man es vielleicht für falsch hält. Denn der Begriff „Kulturwert“ ist das schale Kind einer sehr guten Mutter: Es ist das Kind der Toleranz.
Der Episkopalier respektiert den Talmud, dessen Wahrheit er bestreitet: Der Talmud wird zum Kulturwert. Der Baptist repektiert die Messe der Katholiken; ihre Wahrheit bestreitet er: die Messe wird zum Kulturwert. Der Katholik respektiert die Entwicklungslehre; aber ihre Wahrheit bestreitet er: die Entwicklungslehre wird zum Kulturwert. Kulturwert ist eine Position, die man sozial anerkennt, obwohl man sie als Position verwirft. Und da jeder Glaube des A der Kulturwert der B bis Z ist, lebt jedermann: A bis Z, in einer Welt von Kulturwerten, nämlich in einer Welt, die aus den Positionen der Anderen besteht, die er zugleich verwirft und respektiert: also in einer wahrheitsneutralen Welt. Das besagt ein Doppeltes: Erstens: Wahrheitsanspruch und Kultur schließen einander aus. Ich sage Wahrheitsanspruch. Denn dass die Vielheit der Positionen die Chance der Wahrheitsfindung ist, ist selbstverständlich zugestanden. – Die Neutralisierung besagt aber gleichzeitig noch etwas anderes: Sie wirkt als Boomerang:
Ist jedermann umgeben von Positionen, die er nicht akzeptiert, aber respektiert, sieht jedermann sich schließlich selbst mit den Augen der Anderen: also geschieht es, dass jeder (der eine rascher, der andere langsamer) auch seine eigene Position so ansieht, wie die Anderen sie ansehen, wie sie „soziale Realität“ ist: also als neutrales Phänomen, als Kulturwert, den er zwar respektiert, dessen Wahrheit er aber nicht mehr für fundamental nimmt. Man könnte in der heutigen Welt, und nicht nur „gewissermaßen“, von Selbst-Toleration sprechen. – Oder es geschieht, daß man die „Wahrheit“ der „eigenen Position“ aus unwahrhaftigem Motiv verteidigt, nämlich nur deshalb, weil man, wenn man den Anspruch auf seine Wahrheit nicht geltend machte, sich freiwillig der Ehre seines eigenen Rechts begäbe … wenn der Ausdruck „eigene Position“ überhaupt haltbar ist, denn in der über-wiegenden Mehrzahl der Fälle sind ja z. B. religiöse „Positionen“ nicht gewählt; man gehört ihnen zu wie der Sprache, sie gehören einem nicht. Im Unterschiede zu den, nur als Ausnahmefälle interessanten, Konversionsfällen „hat“ man deshalb die Religion A nicht, weil sie einen von Geburt an „hat“; nicht weil man dies oder jenes glaubte, gehört man ihr an, sondern man „glaubt“ ihre Dogmen, weil man ihr zugehört.
[1] Hugo Münsterberg, Danzig 1863-1916, Cambridge, Massachusetts. –G.O.
[2] Besonders The Eternal Values (1909, i.e. Philosophie der Werte. Barth, Leipzig 1908), Psychology and Industrial Efficiency (1913), Psychology and Social Sanity (1914). –G.O.
(Aus den Manuskripten zu: Kulturphilosophie Bd.I, 1947)