In seinen Lebenserinnerungen beschreibt Elias Canetti seinen Blick auf das Psychiatrische Krankenhaus der Stadt Wien in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts: “Steinhof: von einer langen Mauer umgeben, innerhalb deren in früheren Zeiten Platz für Stadt gewesen wäre. Sie hatte ihren eigenen Dom, die Kuppel der Kirche von Otto Wagner glänzte bis zu mir herüber, die Stadt bestand aus vielen Pavillons, die aus der Ferne wie Villen wirkten. Seit ich in Wien war, hatte ich von Steinhof sprechen gehört, in dieser Stadt der Irren lebten sechstausend Menschen. Es war nicht eigentlich nah, schien aber doch sehr deutlich, ich versuchte mir einzubilden, daß ich zu den Fenstern in die Säle hineinsehen könnte.” [1] Der von Canetti beschriebene Blick auf das Psychiatrische Krankenhaus ist heute nicht mehr so eindeutig, die weiteren Geschicke der Anstalt nahmen einen schrecklichen Verlauf.
In den Jahren der Nazidiktatur wird aus einem der fortschrittlichsten psychiatrischen Krankenhäuser seiner Zeit eine so genannte “Heil- und Pflegeanstalt”. Der Sinn eines Krankenhauses wurde dabei völlig ins Gegenteil verkehrt. Die PatientInnen wurden weder geheilt noch gepflegt, über 7.500 von ihnen wurden umgebracht. Das Psychiatrische Krankenhaus der Stadt Wien war die zweitgrößte Tötungsklinik im “Dritten Reich”. Zu Beginn der 1940er Jahre wurden behinderte und psychisch kranke Menschen nach Hartheim (OÖ) transportiert und dort in einer Gaskammer ermordet, die Angehörigen wurden mit oft gefälschten Todesnachrichten getäuscht. Als sich in der Bevölkerung Widerstand gegen das Töten der Kranken regte, wurden sie nicht mehr deportiert, sondern direkt in den Spitälern umgebracht. Mit Medikamenten wurden die PatienInnen vergiftet, oder sie mussten qualvoll verhungern, die Lebensmittelrationen wurden für die “unnützen Esser” auf ein Minimum reduziert. Der “Volkskörper” sollte von diesen “Ballastexistenzen” gereinigt werden. Vorsichtig geschätzt starben mindestens 30.000 Menschen in den Krankenhäusern der sogenannten “Ostmark” oder in Hartheim. Wer an bestimmten Krankheiten wie Epilepsie, Schizophrenie, Huntingsche Corea und körperlichen Missbildungen litt, blind oder taub war, wurde von den nationalsozialistischen Ärzten und Ärztinnen umgebracht. Nur wer arbeitsfähig war, hatte Chancen mit dem Leben davon zu kommen, allerdings wurde dann ärztlicherseits eine Zwangssterilisierung angeordnet. Bis heute sind diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit nahezu unbekannt, unerforscht und ungesühnt. Von wenigen Einzelfällen abgesehen sind die genaueren Vorfälle heute kaum noch rekonstruierbar.
Ab 1940 wurde die Hälfte des entvölkerten Krankenhauses in eine Einrichtung der Jugendfürsorge umgewandelt. Diese neue Abteilung wurde Spiegelgrund genannt und verfügte auch über eine sogenannte Kinderfachabteilung, die in den Pavillons 15 und 17 untergebracht war. Was sich hier abgespielt hat, ist unvorstellbar und bis heute zum großen Teil ein gut gehütetes Geheimnis. Eine geregelte medizinische Versorgung der Kinder war nicht vorgesehen, dafür forschten die ÄrztInnen intensiv. Reihenweise wurden hier Kinder gequält und gefoltert, im Dienste der nationalsozialistischen medizinischen Forschung. Sobald die Forschungen am lebenden Menschen keine weiteren Ergebnisse brachte, wurde die Tötung eingeleitet. Am Spiegelgrund starben so mindestens 781 Kinder, sie wurden obduziert, ihre Gehirne und Organe für die weitere Forschung präpariert. Die leitende Pathologin sezierte genau nach den Wünschen der forschenden MedizinerInnen, in den bis heute erhaltenen Obduktionsprotokollen findet sich nie ein Hinweis auf eine unnatürliche Todesursache, das wurde vertuscht.
Tötungen und Forschungen waren “reichseinheitlich” organisiert, koordiniert wurden sämtliche Maßnahmen in der Euthanasiezentrale in der Reichskanzlei des Führers in Berlin. Auf eigenen Lehrgängen wurden die ÄrztInnen geschult, je nach Forschungsschwerpunkt wurden die PatientInnen zum Teil auf einzelne Einrichtungen verteilt. Auf den Spiegelgrund kamen so Kinder aus Hamburg, Gelsenkirchen, Bad Kreuznach und Izmir/Türkei, umgekehrt belieferte die Pathologie des psychiatrischen Krankenhauses die Universitätsklinik Heidelberg mit präparierten Gehirnen.
Mit dem Ende der Nazidiktatur war das Leiden und auch das Morden nur bedingt beendet, denn viele PatientInnen waren durch Hunger und Medikamentenmissbrauch so geschwächt, dass ihr Leben nicht mehr gerettet werden konnte. Auch nach der militärischen Zerschlagung des NS-Regimes durch die Alliierten Truppen ging das Sterben in den Spitälern für einige Monate weiter.
1946 saßen “die Kindermörder vom Steinhof auf der Anklagebank”. [2] Der Hauptverantwortliche, Anstaltsleiter Illing, wurde wegen Meuchelmordes an Kindern zum Tod durch den Strang verurteilt, zwei ÄrztInnen wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt, von denen sie einige Jahre verbüßten. Danach war das Kapitel der NS-Euthanasie und NS-Medizin für die österreichische Öffentlichkeit vorerst nicht mehr von Belang. Nach 1945 kam es kaum zu personellen Veränderungen bei den MedizinerInnen im Psychiatrischen Krankenhaus. Die Forschung an den bis 1945 hergestellten Präparaten ging in der zweiten Republik bis 1978 weiter, wobei ihre Herkunft verschleiert und verschwiegen wurde. Es wurde sogar eine eigene “Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft für Gehirnforschung” gegründet.
Ab 1978 gab es wieder eine öffentliche Debatte über den Steinhof und den Spiegelgrund, was vorher ein unbewiesenes Gerücht, eine Vermutung war, schien sich zu bestätigen. “Ein Arzt aus der NS-Mörderklinik” [3] wurde enttarnt. Der Prominente Gehirnforscher, Neurologe, Gerichtspsychiater Primarius Dr. Gross wurde von seiner Vergangenheit eingeholt. Die Vorfälle im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien während des “Dritten Reiches” sorgten für Diskussionen. Doch die gesellschaftliche Stellung, die sich Heinrich Gross nach 1945 als etablierter Wissenschafter und Mitglied in sozialdemokratischen Parteiorganisationen erarbeitet hatte, machten ihn vor einer gerichtlichen Verfolgung sicher. Trotzdem formierte sich eine “Arbeitsgemeinschaft kritischer MedizinerInnen” und begann mit den ersten Recherchen. Gross, der im Nebenberuf Gerichtsgutachter war, versuchte die lästigen KritikerInnen mit einer Klage mundtot zu machen. Er verlor den Prozess und obwohl seine Involvierung in NS-Medizinverbrechen bewiesen wurde, kam es zu keiner Anklage. Auch wenn Gross’ Kontakte in das Zentrum der politischen Macht ihm ermöglichten, sich einer Strafverfolgung zu entziehen, musste er Ende der 70er Jahre zumindest seine Gehirnforschungen beenden, auch als Primarius ging er in Pension. Seine Dienstwohnung im Psychiatrischen Krankenhaus durfte er hingegen behalten.
In einem Keller des Krankenhauses lagerten nach wie vor unzählige Gehirne, eingelegt in Formalin. Sie stammten von den im Pavillon 15 bis 1945 ermordeten und gestorbenen Kindern. Der Umgang mit diesen Gehirnen zeigt eine gewisse Hilflosigkeit im Umgang mit der NS-Vergangenheit. Zuerst wurde im Keller eine Marmortafel aufgehängt. Die Inschrift wies den Raum als Gedenkraum aus. Öffentlich zugänglich war er nicht und einige Gehirne wurden für weitere Forschungen auf die Seite gegeben.
1996 wurde das Verfahren gegen Prim. Heinrich Gross wieder aufgenommen, die Staatsanwaltschaft ermittelte und die Öffentlichkeit beschäftigte sich wieder intensiv mit den Vorfällen am Steinhof und am Spiegelgrund. Das Verfahren wurde jedoch eingestellt, weil der Angeklagte laut einem Gerichtsgutachten nicht verhandlungsfähig wäre.
Seit dieser Zeit beschäftigen sich HistorikerInnen intensiv mit den Vorfällen im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien. Im Mai 2002 wurden die verbliebenen Gehirne am Wiener Zentralfriedhof bestattet, wobei zur gleichen Zeit neue Präparate aus der NS-Zeit auftauchten, deren Herkunft derzeit geklärt wird. Die Recherchen gestalten sich schwierig, da nahezu sämtliche Unterlagen vernichtet wurden.
Heinrich Gross war im Oktober 2002 Gegenstand einer neuerlichen Verhandlung: Das Bezirksgericht Purkersdorf hat festgestellt, dass er sehr wohl rechtsfähig ist. Wird der Prozess gegen ihn nun wiederaufgenommen, oder wird er zivilrechtlich wegen Mordes geklagt?
[1] Elias Canetti Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1930. München: Hanser, 1980. S. 135
[2] Neues Österreich vom 16. 07. 1946.
[3] Kurier vom 17. 01. 1978
Ausstellung: Der Krieg gegen die “Minderwertigen”: Zur Geschichte der NS-Medizin in Wien. Öffnungszeiten: Dienstag und Mittwoch von 10:00 und 16:00 Uhr, Freitag von 15:00 bis 18:00 Uhr. Während der Schulferien geschlossen. Anmeldung für Führungen und ZeitzeugInnengespräche, während der Öffnungszeiten unter: Tel. 01/ 91060-11066 oder unter www.gedenkstaettesteinhof.at