Gerhard Scheit

„Wir erleben den Tod als die Verklärung des Seins“

Musik-Standort Wien im Dritten Reich

Vortrag, gehalten am 16.3.2002 im Wiener Alten Rathaus im Rahmen der Vortragsreihe „Die ‚österreichische‘ nationalsozialistische Ästhetik“

Bekanntlich wurde Wien von Hitler nicht sehr geliebt. Diese aus der Jugendzeit stammende Abneigung führte etwa zu dem Vorhaben, Linz fundamental aufzuwerten. Am 30. 5. 1942 notierte Goebbels, Hitler sei entschlossen, „die kulturelle Hegemonie Wiens zu brechen. (...) Wien soll vor allem auch keine hegemoniale Stellung den österreichischen Gauen gegenüber einnehmen. Wien ist nur eine Millionenstadt wie Hamburg, nicht mehr. Schirach befindet sich hier auf einem gänzlich falschen Wege (...). Er erklärte, daß er schon andere Dinge fertiggebracht habe als diese und daß, selbst wenn die Wiener mit allen Kräften dagegen opponieren, er sein Ziel einer kulturellen Herausstellung von Linz als Gegengewicht gegen Wien unbedingt erreichen werde. Seine Pläne für Linz sind wahrhaftig grandios. Sie werden zu ihrer Durchführung ein Jahrzehnt in Anspruch nehmen (...) Die Wiener Atmosphäre ist dem Führer gänzlich verhaßt.“ [1] Linz und Umgebung sollte nicht zuletzt auch auf dem Gebiet der Musik ein entscheidendes Gegengewicht zu Wien bilden. So ist z.B. der Ausbau des Stiftes St. Florian zu einem Musikzentrum des Großdeutschen Rundfunks geplant worden. [2]

Nach 1945 wurde aus dieser, vom „Führer“ initiierten Depotenzierung Wiens der Mythos von der grundsätzlichen kulturellen und künstlerischen Opposition einer ganzen Stadt. Das ließe sich an einem der Lieblingskinder dieses Mythos zeigen: an den Wiener Philharmonikern. Weil es in diesem Orchester so gut wie keinen Widerstand gab, wurde das ganze Orchester kurzerhand zu einer Art Widerstandsorganisation erklärt, die vom Nationalsozialismus bekämpft worden sei. In Wahrheit ging es lediglich um den verschärften Wettbewerb auf einem erweiterten Terrain, das zunächst Drittes Reich, dann Europa hieß.

So bestand die ganze NS-Politik in gewisser Weise darin, den Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Gruppierungen, Organisationen und Instanzen zu verschärfen – wie in einer politisch-terroristischen Vorwegnahme der heutigen ökonomischen Tendenzen. Und da mußte sich eben auch Wien gegenüber Linz und Graz behaupten lernen ebenso wie gegenüber Hamburg und München. Jeder gegen jeden, aber alle für den Führer und die „Volksgemeinschaft“. Die beständige Rivalität zwischen Goebbels und Rosenberg und ihren jeweiligen Institutionen ist nur die Spitze eines Eisbergs. Hier handelt es sich nicht um sogenannte Interna oder um rein persönliche Zwistigkeiten, sondern um den Funktionszusammenhang eines Staates, der zugleich ein „Unstaat“, ein „Chaos“ war, wie das Franz Neumann Anfang der vierziger Jahre in seiner Studie Behemoth ausgedrückt hat. [3]

Auch die Frage der Integration oder Ausgrenzung der Moderne – je nach dem als „zeitgenössisch“ oder als „entartet“ -, war ein Gegenstand dieses allgemeinen Gerangels um Kompetenzen; und gerade darum ist sie nicht so einfach zu beantworten, wie es scheint. Im Zuge totalitarismustheoretischer Vorstellungen geht man immer von einem monolithischen Gebilde aus, mit eindeutigen Befehlen und Weisungen von oben nach unten, wo es sich in Wahrheit um ein in sich zerfallendes handelte, das aber als solches – durchaus gestützt auf die Initiative jedes einzelnen seiner konkurrierenden Teile — über die Führerfigur und in der Einheit der Volksgemeinschaft mit aller Kraft die totale Vernichtung organisieren konnte.

Es war diese Entfesselung der allseitigen Konkurrenz nicht unbedingt eine bewußte Politik – sonst hätte ja Hitler zu Schirachs Bemühungen gesagt, er – Schirach — sei eben auf dem richtigen Weg. Und doch war er im Sinne Hitlers, also im Sinne der Vernichtung, ganz auf dem richtigen Weg: Wien sollte gerade seine Eigenart herausstreichen und herausarbeiten, um in der Konkurrenz bestehen zu können, und die Konkurrenz diente letztlich der Einheit der Volksgemeinschaft. So gelang es Schirachs Wienpolitik, den „Piefke“-Überdruß der Österreicher — der sich bald nach 1938 zeigte, als die Reichsdeutschen sich allzu selbstherrlich in der Ostmark benahmen – durchaus ganz im Interesse des Reiches produktiv zu machen.

Der entfesselte Konkurrenzkampf und die geschlossene Volksgemeinschaft konnten aber nur darum — und nur darum bis zum allerletzten Tag — eine feste Einheit bilden, weil es einen metaphysischen Feind gab: dessen Vernichtung war die Voraussetzung der Einheit. Von dieser Voraussetzung sprach Schirach im September 1942 vor dem „Europäischen Jugendkongreß“: „Jeder Jude, der in Europa wirkt, ist eine Gefahr für die europäische Kultur! Wenn man mir den Vorwurf machen wollte, daß ich aus dieser Stadt, die einst die europäische Metropole des Judentums gewesen ist, Zehntausende und aber Zehntausende von Juden ins Ghetto abgeschoben habe, muß ich antworten, ich sehe darin einen aktiven Beitrag zur europäischen Kultur.“ [4]

Wie also die verschiedenen Institutionen und Organisationen, Länder und Gemeinden in der Vernichtung der Juden als durchaus dezentralisiertes Aggregat zusammenwirkten, um Erfolg und Effizienz wetteifernd, so konkurrierten die verschiedenen kulturellen Zentren in der Frage, wo „das reine Sein“ am reinsten sei, um mit dem Wiener Standort-Dichter Josef Weinheber zu sprechen. Hier in Wien „tönt das Abendland noch./ Hier wie nirgends entschied der Mensch das Seinige, nirgends / wurde die Weisheit so Stimme der höchsten Gewalt“ – so heißt es in dem von Raoul Aslan vorgetragene Prolog Weinhebers zum 75-jährigen Jubiläum des Staatsoperngebäudes am 23. Mai 1944. [5]

Die Totenfeiern der zeitgenössischen Musik

Wenige Wochen nach dem „Anschluß“, im Juni 1938, wurde Franz Schmidts Buch mit Sieben Siegeln zum ersten Mal aufgeführt. Für die Musikkritik eine erste große Gelegenheit, im neuen Kontext sich zu positionieren.

„Ein künstlerisches Ereignis von besonderer einmaliger Art hält das musikalische Wien in Atem. Ein reifer Meister, einer unserer Großen, sagen wir es nur: der bedeutendste lebende österreichische Symphoniker, Franz Schmidt, hat uns mit einem abendfüllenden Werk beschenkt (...). Für den Wiener Boden, der energiegeladen, allenthalben Musik ausstrahlt sind Uraufführungen an sich bedeutsame Augenblicke, in denen das hohe Allgemeininteresse an zeitgenössischer Musik Höhepunkte erlebt. Für Neues ist der Wiener immer zu haben, dafür sorgt schon seine angeborene Neugier. Handelt es sich nun gar um Urauführungsabende anerkannter Tondichter, ist das ganze Musik-Wien auf den Beinen, um dem Meister und seinem Werk die gebührende Ehre zu erweisen. Im Falle Franz Schmidt ist es heute so gewesen. (...) Wir kannten Franz Schmidt als Vertreter religiöser Kunst (allerdings nur im übertragenen Sinn) bisher bloß in seinen Orgelwerken, mit denen der Meister, unterstützt durch den hingebungsvollen Interpreten Franz Schütz, den Grundstein zum Weltnamen gelegt hat. Das Hauptgewicht seines Schaffens liegt wohl auf symphonischem Gebiet, als dessen österreichischen Großmeister ihn heute alle Welt betrachtet.“ [6]

Eine gewisse Distanznahme zur religiösen Kunst ist damit indirekt ausgesprochen. Der Hinweis ist klar: Das Hauptgewicht des Schaffens von Franz Schmidt habe nicht hier zu liegen, sondern auf symphonischem Gebiet, wo er sich als österreichischer Großmeister im Dritten Reich wird behaupten können, strahlt der Boden in Wien doch von sich aus allenthalben bereits die deutsche Musik aus.

Im Völkischen Beobachter ist zu dieser Zeit der Begriff einer „österreichischen Musik“ keineswegs geächtet und durchaus noch nicht durch den einer „Musik aus der Ostmark“ oder den der „deutschen Musik“ einfach ersetzt. Vielmehr legt man deutlich einigen Wert auf Differenzierung innerhalb dessen, was als deutsche Musik konstruiert wird und dabei kommt nun gerade der „österreichischen Symphonik“ Bedeutung zu. Um Differenzierung ist der Kritiker des Völkischen Beobachters auch in anderer Hinsicht bemüht:

„Ähnlich der eines Hans Pfitzner oder Max Reger, ist die Musik Franz Schmidts nicht dazu angetan, die große Popularität zu erringen, deren sich beispielsweise ein Richard Strauß erfreut. Dazu stellt sie dem Hörer, auch dem vorgebildeten, zu viele Probleme, macht es ihm gar nicht leicht, in ihren Geist einzudringen. Von der nachklassizistischen Richtung her kommend, vermochte Franz Schmidt kraft seiner gesunden Eigenpersönlichkeit die vorhandenen Entwicklungskomponenten (die durch die Begriffe Brahms und Reger gekennzeichnet sind) zu einem originellen Stil zu amalgamieren, der, ähnlich wie der seines Zeitgenossen, Kollegen und musikalischen Antipoden Joseph Marx, Schule gemacht hat. Als Schmidt erstmalig mit seinen Symphonien vor die Öffentlichkeit trat, hatte ihn ein kluger Kopf den modernen, neuen Bruckner genannt.“ [7]

So hat der Kritiker das ganze gegenwärtige Spektrum der deutschen Musik nach erfolgtem „Anschluß“ und nach konsequent durchgeführter „Arisierung“ entworfen und darin Franz Schmidt als „neuen Bruckner“ eingestuft. Damit ist man aber auch schon mit der Analyse des Werks so gut wie fertig. Die Kürze der Darstellung widerspricht eigenartig der Bedeutung, die ihm von Anfang an zugedacht wird. Es genügt dem Kritiker, so etwas wie einen subjektiven Eindruck auszusprechen, wonach Schmidt „zurückgekehrt“ sei „zu eingängigerer Art des Musizierens“. Umso mehr Aufmerksamkeit widmet er der Aufführung und Interpretation.

Das entspricht auch ganz der „Musikpflege“ — Joseph Goebbels Vorgaben für die Kunst-, Literatur- und Musikbetrachtung. [8] Bekanntlich ließ Goebbels die „Kritik“ verbieten, um sie durch „Kunstbetrachtung“ und „Kunstbeschreibung“ zu ersetzen: er verlangte „weniger Urteil als vielmehr Darstellung“. [9] Die Anordnung galt nicht für Fachzeitschriften, sondern nur für die allgemeine Tagespresse. „Das ‚Kritikverbot‘ (...) war eine Absichtserklärung ohne strikte Verbindlichkeit; zumal da der Minister für aktuelle und daher eilige Kunstberichte keine Vorzensur einführen konnte. Er verließ sich also darauf, daß die Schriftleiter Selbstzensur übten.“ [10] Und Goebbels tat dies zu Recht. Es handelte sich – wie bei vielen Anordnungen im Dritten Reich – um Maßnahmen, die auf die Selbsttätigkeit der entsprechenden Organe und Personen setzten und nur gewisse Orientierungspunkte vorgaben; im Falle der Kunstbetrachtung könnte am ehesten von einer Art Einstimmung die Rede sein. In dieser Hinsicht unterschätzt Fred K. Prieberg die Bedeutung der Anordnung als Form der Verständigung zwischen Staat und Musikfeuilleton, denn er behauptet: „Nach einer kurzen Periode der Unsicherheit, in der den Mutigen nichts zustieß, lief Musikkritik wieder ungefähr im alten Geleise.“ [11] Allem Anschein nach hat sich aber das Schwergewicht der Kritik nicht unwesentlich verschoben – von der Analyse der Werke zu deren Betrachtung: das, was einmal Kritik war, konzentrierte sich nun fast ausschließlich auf die künstlerische Interpretation. Ein früher Kommentar zu Goebbels’ Anordnung bringt diese Verschiebung zum Ausdruck: „Wo der Kritiker feststellen muß, daß der Interpret mit unzureichendem Können, mit Leichtfertigkeit oder selbstgefälliger Eitelkeit sich an heiligen und großen Dingen vergreift, wird es (nach wie vor) seine Pflicht sein, seinem Volk und seiner Kunst zu dienen durch die Warnung vor falschen Götzen.“ [12] Die Werke selbst waren als die „heiligen“ Dinge des Volks Gegenstand nicht mehr der Kritik, sondern nur mehr der einfühlenden Verehrung. Diese weicht der Analyse aus und vermeidet eine Ableitung ihrer Urteile – es sei denn eine unmittelbar aus der „Rasse“.

Die „Musikpflege“, wie sie sich 1938 auch in Österreich etabliert hat, verzichtet aber erstaunlicherweise auf die ständige Bezugnahme zur nationalsozialistischen Ideologie oder Weltanschauung: Bemerkungen zur „Rasse“ oder auch nur zur Nation kommen – wider Erwarten – nicht oft vor. Stattdessen scheint man sich ganz informell auf eine gemeinsame Basis in der Konstruktion der Musik zu beziehen: stillschweigend wird von der Einheit der deutschen Musik wie dem Ausschluß jüdischer Komponisten ausgegangen. Diese Konstruktion ist sozusagen als selbstverständliche Gemeinsamkeit vorausgesetzt, über die nicht viele Worte mehr zu verlieren sind, so daß der Kritiker selbst sich auf die „Pflege“ der dieser Einheit zugehörigen Werke konzentrieren kann.

Der Kern der „Musikpflege“ bestand eigentlich in der Totenfeier: in der Würdigung einer großen Persönlichkeit der deutschen Musik, die, auch wenn sie noch lebte, wie Richard Strauss, Franz Schmidt oder Joseph Marx, in der Art und Weise der Darstellung bereits als toter Künstler betrachtet wurde. Solche Totenfeiern der zeitgenössischen Musik gab es allerdings nicht wenige. Entgegen der üblichen Auffassungen, die man nach 1945 vom Nationalsozialismus kultivierte, wurde dem Zeitgenössischen in der Kunst sogar besonderes Augenmerk geschenkt und ausgesprochene Förderung zuteil. So ist etwa im Mai 1942 eine vielbeachtete „Woche der Zeitgenössischen Musik“ veranstaltet worden, bei der auch die Wiener Philharmoniker mitwirkten. Werke von Berg- und Schönberg-Schülern wie Hans Erich Apostel und Winfried Zillig wurden von solchen Veranstaltungen keineswegs prinzipiell ausgeschlossen. Entscheidend waren bei der Frage von Integration und Exklusion vor allen ästhetischen Belangen die Nürnberger Gesetze. Dennoch sah man sich bei dieser Gelegenheit auch im Ästhetischen selbst veranlaßt, von „Rasse“ und Gegenrasse zu sprechen, um an einem neuralgischen Punkt der Moderne – der Kontrapunktik — das Zeitgenössische vom Entarteten zu trennen.

„In den letzten Jahrzehnten vor dem Umbruch schufen allerdings die gar zu bedenklich aufgenommene lineare Schreibweise, die Polytonalität und die Atonalität, unter jüdischer Führung mißbraucht und bis zur ödesten Notenmathematik getrieben, starke Verwirrung. Es war gar zu bequem, sich in der Stimmführung durch keinerlei Regeln und harmonische Rücksichten eingeengt zu fühlen und lustig draufloszuschreiben, ohne darauf zu achten, wie das Ganze klingen, vom menschlichen Ohr aufgenommen und inhaltlich verstanden werden sollte. Was herauskam, war oft ein bloßer Blender. Weniger Schöpferische kranken noch heute daran, daß sie mangels eigener Erfindung stofflich zu thematischen Kopien aus Regers und Bachs Werken, zu ganzen Themen aus alten Werken und zu Volksweisen ihre Zuflucht nehmen müssen und der Kontrapunktik selbst keine Ausdruckswerte entlocken. In großen Zusammenhängen gesehen, scheint sich aber heute in der Hinwendung zur polyphonen Schreibweise der Urtrieb nach einer Ornamentik zu äußern, wie sie nach neuesten Feststellungen der Kunstgeschichte (...) für die nordische Rasse kennzeichnend schon lange eine ihr angemessene Form des musikalischen Schaffens ist.“ [13]

Das Zeitgenössische also ist das Ursprüngliche, das Neue nur das Immergleiche: Urtrieb der nordischen Rasse.

Im Rahmen der Woche zeitgenössischer Musik wurde übrigens Joseph Marx besondere Aufmerksamkeit zuteil. Im Völkischen Beobachter findet sich der Artikel zum 60. Geburtstag des Komponisten, von Erich Schenk vom Wiener Institut für Musikwissenschaft verfaßt. Joseph Marx wird darin als der „repräsentative Komponisten des donau-alpenländischen Raumes“ bezeichnet, der schon „vor vielen Jahren in den ersten Reihen der musikalischen ‚Moderne‘ gestanden“ sei. Auch hier ist das Immergleiche als Ehre und Treue des Komponisten festgehalten, die Entwicklungslosigkeit als völkisches Ideal. „In solchem Streben ist nun Josef Marx unbeirrbar seinen eigenen Weg gegangen – er blieb sich treu, verzichtete auf hochtrabende Fanfaren und programmatische Manifeste, die Zeitalter künstlerischen Umsturzes kennzeichnen, deren Verkünder allerdings – so geflissentlich sie die Geschichte für sich sprechen lassen – nur in seltenen Fällen den Beweis der Wert- und Dauerhaftigkeit ihrer Leistungen zu erbringen vermögen.“ [14]

Von „Tiefe und Innigkeit“ ist des weiteren die Rede und davon, daß „jedes wirkliche große Kunstwerk“ „einer ganz bestimmten seelischen Seinslage“ entspringe. Solche „Musikbetrachtung“ nimmt den Jargon der Nachkriegszeit bereits bis ins Detail vorweg — als diskrete Weise an die nationalsozialistische Ideologie anzuknüpfen.

Die in sich selbst verliebte Stadt

Noch deutlicher als bei der zeitgenössischen Musik macht sich bei der sogenannten „leichten Muse“ die Tendenz bemerkbar, das „Wienerische“ und „Österreichische“ bzw. „Ostmärkische“ als spezifische Art der deutschen Musik zu konturieren – ganz im Gegensatz zu der nach 1945 dominierenden Vorstellung von der Auslöschung oder Verneinung einer österreichischen Eigenart im Nationalsozialismus. So ist es auch zu verstehen, daß etwa bestimmte Ausformungen der Marschmusik, die tänzerische Rhythmen integrieren, und darum von Hanslick noch bestimmt – und nicht zuletzt auch von einem deutschnational geprägten Musikverständnis her — kritisiert worden sind, eine charakteristische Aufwertung erfahren: als „gemütvoll-sinnenfreudige Art“ zu marschieren.

Der unmittelbare Bezug zu Wien spielt in dem nationalsozialistischen Projekt, die „hohe Kunst“ zum Eigentum der Volksgemeinschaft zu machen, eine wesentliche Rolle. Vom Bezugspunkt des gemeinsamen Standortes „Groß-Wien“ aus, den es gegen andere Standorte des Dritten Reichs im inner-nationalsozialistischen Konkurrenzkampf der Länder und Gemeinden, Organisationen und Instanzen zu verteidigen galt, gelang es erst, die verschiedenen disparaten Musik- und Kunstformen so zu verschmelzen, daß sie nicht mehr die Einheit der Volksgemeinschaft gefährden konnten und jeder einzelne „Volksgenosse“ in die Lage versetzt wurde, über dieses Eigentum mit dem nationalsozialistischen Staat sich zu identifizieren. Dazu aber war es nötig, auch im Kleinen, Regionalen gewisse lokalpatriotische Identitäten aufzugreifen, weiter auszubilden und anzubieten. Besonders die Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF) war der Schauplatz für solchen Identitäts-Wettstreit. Das Spektrum reichte vom Festkonzert der KdF im Konzerthaus bis zum Auftritt der prominenten Künstler in der Fabrik.

Der Musik-Standort Groß-Wien wird zu einer Art metaphysischen Qualität. Wien allein bedeute neben dem Nationalen eine eigene Kategorie von Musik: „es gibt wohl eine Musik der Nationen, aber es gibt keine Musik der Städte, es gibt einzig und allein eine Wiener Musik“. Interessant ist die geschlechtliche Konnotation an dieser Stelle, die Rede ist nämlich von „dieser fraulichen, ein wenig in sich selbst verliebten Stadt“ [15]. Bekanntlich hat Adolf Hitler immer wieder den Massen weibliche Eigenschaften zugeordnet. Wien aber präsentiert sich in den Kommentaren seiner Musikideologen als eine Art Essenz der Massen. (Die Gestalt Schuberts, von der entsprechende Klischees vorgeprägt sind, wird dabei übrigens besonders gerne verwendet, diese ideologische Form zu personifizieren.)

Der Standpunkt dieser Musikbetrachtung ist überhaupt der des überraschend nahegerückten „Führers“, der das Wiener Publikum als weibliches Subjekt anspricht, gerade in der Hervorhebung der tadelnswerten Eigenschaft des In-sich-selbst-Verliebtseins seine exklusive Nähe und intime Kenntnis artikuliert. Die Musik dient offenbar hier nicht dazu, Differenzen regionaler oder sozialer Art innerhalb der Gesellschaft des Nationalsozialismus einfach zum Verschwinden zu bringen, vielmehr Distinktionen zu befestigen und zu schaffen, an deren Überwindung sich dann die Einheit der Volksgemeinschaft bewährt.

Richard Strauss und der Endsieg in Wien

Besonders ausführlich wird in Wien der 80. Geburtstag von Richard Strauss im Jahre 1944 gefeiert. Strauss wird regelrecht in Wien eingemeindet, die familiäre Einheit mit Publikum und Philharmonikern beschworen. Eine Intimität findet sich hier förmlich zelebriert, die für das Nachkriegsösterreich maßgeblich werden sollte. Davon zeugen die Berichte in der Wiener Ausgabe des Völkischen Beobachters:

„Wie die Festlichkeit des Rahmens, die Anwesenheit hoher und höchster Ehrengäste sowie der beispiellose künstlerische Erfolg bewiesen, ist das Geburtstagskonzert an dem Richard Strauß ‚seine‘ Wiener Philharmoniker dirigierte, als der Höhepunkt aller Musikveranstaltungen zum 80. Geburtstag des Meisters zu werten. In dem mit jungem Grün geschmückten Großen Musikvereinssaal erwartet den Jubilar ein in freudiger Erregung hochgespanntes Gratulationspublikum. Als Ehrengäste waren Reichsleiter Baldur von Schirach und die Gattin des Komponisten, Generalfeldmarschall Freiherr von Weichs, Generalintendant Ministerialdirigent Dr. Heinz Drewes, Bürgermeister SS-Brigadeführer Hanns Blaschke, der Generalkulturreferent des Reichsleiters Hermann Stuppäck, Josef Weinheber, der Schöpfer des Richard Strauß zugeeigneten Geburtstagsgrußes, mit zahlreichen anderen hervorragenden Persönlichkeiten erschienen.

Bei seinem Erscheinen wird Strauß mit stürmischem Beifall empfangen. Der Beifall verstärkt sich noch, nachdem die Philharmoniker durch die souverän stabführende Hand Direktor Dr. Karl Böhms in dem blendend gespielten ‚Meistersingervorspiel‘ ihren klingenden Willkommensgruß dargebracht hatten. Der Vorstand der Wiener Philharmoniker, Professor Wilhelm Jerger, überrascht den Jubilar mit einer in warmen Herzenstönen gehaltenen Gratulationsrede. Die Wiener Philharmoniker empfänden es als die höchste Ehre und Auszeichnung an diesem für die deutsche Musikgeschichte so denkwürdigen Tag mit Strauß musizieren zu können. Denn durch dieses Konzert werden die dauernde Verbundenheit zwischen Strauß und den Wiener Philharmonikern neuerlich bekundet und bekräftigt. Daher gelte es für die Philharmoniker heute nicht, ein übliches ‚Konzertprogramm‘ abzuspielen, sondern als Freunde und gleichsam Familienangehörige an dem Festtag teilzunehmen.

So dürften die Philharmoniker die ‚Sinfonica domestica‘ auch ein wenig auf sich beziehen. Die jahrzehntelange Zusammenarbeit zwischen Strauß und den Wiener Philharmonikern werde am trefflichsten in jenem Satz des poetischen Geburtstagsgrußes von Josef Weinheber zusammengefaßt: ‚So wie es war, war es gut!‘ Mit den aufrichtigsten Segenswünschen für ein ferneres künstlerisches Wirken schließt Jerger seine Worte.

Und da die Wiener Philharmoniker ihre Wünsche noch besser als mit Worten in Tönen vorzubringen vermögen und Wien schon einmal die Stadt des Dreivierteltaktes ist, in der alles, was wir zu sagen haben, in beschwingter Form ausgedrückt wird, soll, bevor der Meister selbst zum Taktstock greift, die wienerischste seiner Schöpfungen erklingen. Und als zweite Überraschung für den Jubilar tritt wieder Karl Böhm ans Pult und musiziert mit den Philharmonikern in berückendem Klangzauber beschwingte, melodienselige Dreiviertelharmonien aus dem ‚Rosenkavalier‘.“ [16]

Beinahe täglich wird von den Strauss-Feierlichkeiten berichtet. Dabei fällt die Umstellung der Musikkritik auf Musikpflege besonders ins Gewicht: die Werke selbst werden zum großen Teil als bekannt vorausgesetzt, die ganze Aufmerksamkeit findet sich auf die Interpreten gelenkt. Polemik gegen die „entartete Musik“ der anderen unterbleibt. Im Vordergrund steht die Feier des deutschen Komponisten. Probleme, die dessen Werk aufwerfen könnte, werden ausschließlich als Herausforderung für die Interpreten gesehen: d.h. die Interpretation der Werke durch die deutschen Künstler, insbesondere durch jene aus Wien, gewährleistet die Lösung aller Probleme.

Die Partitur wird fast nur mehr aus der Perspektive betrachtet, welche Anforderungen sie an die Leistung der Sängerinnen und Sänger, Orchester und Dirigenten stellt, was sie zur Herausstellung der Eigenart des Interpreten bietet. Auf diese Weise entzieht sich der Musikbetrachter jeder Äußerung über die Zusammenhänge in der Partitur und jeder Notwendigkeit eines Urteils. Er versetzt sich vielmehr in die einzelne Sängerin oder den einzelnen Musiker, beurteilt alles durch beständige Empathie mit den Ausführenden und kann sich so über die im Werk wie auch immer ausgetragenen Konflikte hinwegsetzen.

„[...] das ist es, was wir dem begnadeten Künstler besonders hoch anrechnen, nicht allein virtuosenhaft gestaltet, sondern durch Eigenes, Seelisches durchwärmt und geadelt. Beneidenswert das Philharmonische Orchester, das solche Solisten zu seinen Mitgliedern zählt, ein spezieller Fall, der für Wien mit seiner musikalischen Atmosphäre charakteristisch ist.“ [17]

Über die Empathie mit den Interpreten durch Abstraktion von der Partitur, die diese nur als Vorlage interpretatorischer Leistung übrigläßt, wird der ‚Lokalpatriotismus‘ in ganz anderem Ausmaß artikulierbar. Dabei werden die Kriterien eines Julius Korngold, des führenden Musikkritikers der vorangegangenen Epoche, wie Versatzstücke aufgegriffen: so das Kriterium der „Wärme“, mit dem Korngold sehr oft ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Musik unterschieden hat. Nun fungiert es, den Standort Wien innerhalb des Dritten Reichs auszuzeichnen — als den Ort, wo die deutsche Musik besonders „warm“ erklingen kann: „Wien mit seiner musikalischen Atmosphäre“, wo alle Kultur „durch Eigenes, Seelisches durchwärmt“ wird.

Angesichts des Zeitpunkts der Strauss-Feiern erstaunt es, daß sich vom nahenden Untergang des Dritten Reichs so gut wie nichts niederschlägt; daß man es nicht einmal für nötig hält, so etwas wie Durchhaltestimmung in der „Musikpflege“ zu vermitteln. Eher scheint die Auffassung vorzuherrschen, bei einem glücklichen Ende der Geschichte angekommen zu sein. Die Streitpunkte der Vergangenheit sind bewältigt, das „Judentum in der Musik“ ist ausgemerzt, die deutsche Musik durchgesetzt. So bleibt nur noch die Feier des Endsiegs in der Musik. Während die Alliierten zu den Grenzen des Dritten Reichs vordringen und die großen Todesmärsche aus den Vernichtungslagern einsetzen, schreibt der Völkische Beobachter über den letzten Abend der ausgedehnten Strauss-Feierlichkeiten – die Aufführung der Dafne: dieser Oper sei „die Leichtigkeit des Tonsatzes“ eigen, „der, von aller Erdenschwere befreit, dahinschwebt, das aufgelockerte, kontrapunktisch bewegliche Gefüge des Satzgewebes, dessen Stimmen sich bald ineinanderschlingen, bald in der Phrase auslaufend sich verflüchtigen“; „die bukolische Geruhsamkeit, die epische Beschaulichkeit“ nehme

„breitesten Raum ein. Das mag auf Kosten der Dramatik gehen, ist jedoch im Wesen des textlichen Vorwurfes begründet. Wenngleich sich auch die Motivik der agierenden Personen auf der Ebene menschlicher Handlungsweise bewegt, sind die Gestalten dennoch, der irdischen Sphäre entrückt, von einer höheren Warte aus zu betrachten. So will es der Text Joseph Gregors, so illustruiert es die Musik Richard Strauß’ und so brachte es auch Karl Böhms Interpretation zum Ausdruck. (...) In Maria Reining mit ihrer Seraphsstimme wird die erdverbundene Gestalt des Naturkindes Daphne beglückendes Erlebnis. Die Rolle zählt zu den allerschwierigsten des Faches; und doch tritt das Erstaunen über die restlose Beherrschung des Technischen zurück vor der Bewunderung für das geistige Erfassen einer Figur, die in der Opernliteratur ohne Vorbilder dasteht. (...) Strauß, Böhm und die Solisten standen im Mittelpunkt anhaltender Beifallskundgebungen, die in die Kunstbegeisterung den Dank für die prächtige Aufführung miteinbezogen, in der die Strauß-Festlichkeiten ausklangen.“ [18]

So enden die Strauss-Feierlichkeiten Mitte Juni 1944. Die geplante Uraufführung der Liebe der Danae bei den Salzburger Festspielen zwei Monate später konnte dann nur mehr als halböffentliche Generalprobe stattfinden. Sie wurde 1952 am selben Ort nachgeholt.

Die Musik selbst

Nicht zuletzt solche Kontinuitäten werfen die Frage nach der Musik selber auf; nach den Kompositionen, die in dieser Zeit entstanden. Sind sie – wie Thomas Mann es einmal für die Literatur zwischen 1933 und 1945 in Erwägung zog — samt und sonders als Makulatur zu betrachten? Oder haben sie kraft ihrer Autonomie überhaupt nicht Teil an der Gesellschaft, in der sie entstanden sind?

Hier ist natürlich zunächst eine Art von extremer Differenzierung nötig – zwischen der Liebe der Danae und den Musikblättern der Hitler-Jugend: „Wir sind die lustigen Pfeiferlbuam“. Und dennoch wäre an einer Einheit im Schlechten festzuhalten, insofern die Werke – so unpolitisch und rein musikalisch sie auch disponiert sind – zu jenem Ganzen gehören, das zum Ganzen nur durch Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Menschen wurde, die man zu einem metaphysischen Feind erklärt hat.

Es ist immer wieder danach gefragt worden, ob man denn die Beziehung der einzelnen Komponisten zum Nationalsozialismus an der Musik selbst festmachen könne, ob in den Details oder im Ganzen der rein musikalischen Strukturen das Nationalsozialistische und Faschistische erkennbar wäre. Ganz ähnliche Fragen wurden und werden stets auch im Hinblick auf Architektur und Bildende Kunst aufgeworfen.

Es handelt sich beim Nationalsozialismus aber nicht um eine Epoche wie jede andere — am wenigstens um eine Epoche der Kunst, die mit bestimmten Stilbegriffen auch nur annähernd bestimmbar wäre -, vielmehr um einen im emphatischen Sinn kurzlebigen, weil von Anfang an auf den totalen Vernichtungskrieg angelegten gesellschaftlichen Zwangszusammenhang, um die Durchführung eines „Zivilisationsbruchs“ (Dan Diner), eines Bruchs ebenso in wie mit der Zivilisation.

Wenn nun Richard Strauss, Franz Schmidt und Joseph Marx in einem solchen Zusammenhang einfach so weiter komponieren, wie sie es bereits lange vorher getan haben, was geschieht dann? Kann man – um jene Fragen noch einmal zu stellen — die Werke vom nationalsozialistischen Zusammenhang vollkommen isolieren, wie es ja in der Rezeption nach 1945 getan wurde? Oder soll man im Gegenteil – die Kunstautonomie durchstreichend — den Gehalt der Werke in jenem Zusammenhang vollkommen aufgehen lassen: Nicht was einer komponiert, sondern für wen er es tut, wäre das Entscheidende?

Das Problem läßt sich auf diese Alternative nicht einengen. Denn daß der Nationalsozialismus möglich war, stellt die Kultur – und insbesondere die deutsche — selber in Frage, droht sie – um mit Adorno zu sprechen – in Müll zu verwandeln. [19] Und es bleibt zu fordern, daß der Komponist etwas davon in seinem Komponieren wahrnimmt, in der Auseinandersetzung mit dem musikalischen Material und der Tradition realisierend, daß nichts was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist. Isoliert betrachtet, steht hier, wo es um den Kernbereich seiner Arbeit geht, der Komponist im Dritten Reich vor denselben Tatsachen und Problemen wie der Komponist im Exil. Und darin entscheidet sich unter anderem, ob bei jenem von innerer Emigration wirklich oder nur unter Anführungszeichen gesprochen werden kann. Denn die Integrationsfähigkeit des NS-Staats hat selbst im ‚rein‘ Ästhetischen ihre Grenzen. Mit Weberns Musik läßt sich dieser Staat nicht machen — selbst wenn Webern dazu zeitweilig gar nicht abgeneigt gewesen wäre. [20] Das Erbe von Schönberg erwies sich als stärker; dieses Erbe, das Webern als Komponist und Lehrer wachhielt wie kaum ein anderer, hat von vornherein eine wirkliche Anpassung verhindert. [21]

Kultur ist wesentlich Differenzierung. Der Nationalsozialismus hat diese Differenzierung im Namen eines Zwangs zur Identität organisiert, der nichts anderes als Tod bedeutete, Kultur wird zum Kleingeld der Vernichtung. „Wir erleben den Tod als die Verklärung des Seins“ [22] – dichtet Weinheber im offiziellen Prolog zur Feier des Staatsoperngebäudes; im unpublizierten Gedicht Mit fünfzig Jahren schreibt derselbe, ein wahrer Heidegger des Wienerwalds: „Vielleicht, daß einer spät, / wenn all dies lang’ vorbei, / das Schreckliche versteht, / die Folter und den Schrei – // und wie ich gut gewollt / und wie ich bös getan;/ der Furcht, der Reu gezollt / und wieder neuem Wahn — // und wie ich endlich ganz / dem Nichts verfallen bin (...).“ [23]

Darin liegt auch die nationalsozialistische Bestimmung der spezifisch österreichischen oder wienerischen Ausprägungen in Kunst und Musik, die eine solche kulturelle Besonderheit, eine Leistung der Differenzierung sein könnten. Kulturelle Differenzierung wird nichtig, sobald sie im Dienst einer Volksgemeinschaft, im Dienst also der Vernichtung des Fremden, des von der Volksgemeinschaft Ausgeschlossenen erfolgt. Wenn Strauss, Schmidt und Marx weiterhin und bruchlos diese Traditionen pflegen, dann ist darin plötzlich ein Schweigen über das große Verbrechen eingeschlossen. Die Huldigungsgedichte Weinhebers stehen dafür, wie diese Musik weit über die „Stunde Null“ hinaus wirkte: „So wie es war, war es gut!“ – damit feiert das Publikum den 80. Geburtstag von Richard Strauss [24]; „So nur erträgt sich die Welt.“ – damit feiert es das 75-jährige Jubiläum der Staatsoper [25]. „Lauterstem Hörsinne war, / ist dies Haus ein Gefäß. Ein Schönstes des Menschen zu fassen,/ steht es da und verbürgt klar uns das Hiersein, die Welt“ [26] – heißt es über jenes Gebäude, das ein Jahr später in Schutt und Asche lag. „Niemals war einer so Volk“ – schrieb Weinheber über sich selber — und brachte sich um.

Die schöne lange Ländler-Melodie im zweiten Satz der Zweiten Mahler – für viele Inbegriff österreichischer Besonderheit — erklang hingegen zum letzten Mal im Jüdischen Kulturbund Berlin am 1. März 1941. Eine Art Ghetto-Konzert: ausschließlich jüdische Interpreten durften hier noch einmal Mahler spielen und ein ausschließlich jüdisches Publikum noch einmal Mahler hören. Es handelte sich um eine geschlossene Vorstellung: auf die Programme und Spielpläne des Jüdischen Kulturbundes durfte nicht in der Öffentlichkeit, sondern nur in speziellen jüdischen Presseorganen hingewiesen werden; öffentlicher Kartenverkauf war verboten; die Besucher der Veranstaltungen mußten sich mit einem besonderen Lichtbildausweis legitimieren. [27] Ein halbes Jahr später wurde der Kulturbund geschlossen, die Juden zum Tragen eines Judensterns gezwungen — und wenige Monate später begannen auch die Deportationen.

[1Institut für Zeitgeschichte, München: MA 473, Fragmente eines Goebbels-Tagebuches 1941-1943. Zit. n. Klaus Amann: Literaturbetrieb 1938-1945. In: NS-Herrschaft in Österreich. Hg. v. Emmerich Talos, Ernst Hanisch u. Wolfgang Neugebauer. Wien 1988, S.298 f. Die Stelle ist in den bekannten Ausgaben der Goebbels-Tagebücher nicht enthalten.

[2Vgl. hierzu Theodor Venus: Von der „RAVAG“ zum „Reichssender Wien“. In: NS-Herrschaft in Österreich, S.312

[3Franz Neumann: Behemoth. The structure and Practice of National Socialism 1933-1944 (rev. Aufl. New York 1944); hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944. Hg. v. Gert Schäfer. Köln — Frankfurt am Main 1977, S.16

[4Zit. n. Michael Wortmann: Baldur von Schirach. Hitlers Jugendführer. Köln 1982, S.212

[5Josef Weinheber: Sämtliche Werke. Hg. v. Josef Nadler und Hedwig Weinheber. Bd.2. Salzburg 1954, S.531

[6Friedrich Bayer: Franz Schmidt: „Buch mit sieben Siegeln“. Uraufführung im Musikvereinssaal. Völkischer Beobachter, 16. 6. 1938

[7Ebd.

[8Vgl. hierzu: Fred K. Prieberg: Musik im NS-Staat. Frankfurt am Main 1982, S.284f.

[9Kunstbetrachtung statt Kunstkritik. Dr. Goebbels vor der Reichskulturkammer. Kölnische Zeitung, Abendblatt, 27.11.1936; G. Tischler: Kunstwürdigung und Kunstkritik. Deutsche Musik-Zeitung 37.Jg., H.12, Dezember 1936, S.93f.

[10Prieberg, Musik im NS-Staat, S.284

[11Ebd.

[12G. Tischler: Kunstwürdigung und Kunstkritik. Deutsche Musik-Zeitung 37.Jg., H.12, Dezember 1936, S.93f.

[13Otto Repp: Die Woche der Zeitgenössischen Musik: Konzert der Wiener Philharmoniker. Völkischer Beobachter, 10.5.1942

[14Erich Schenk: Der Sechziger Josef Marx, Völkischer Beobachter, 10.5.1942

[15Johanna Meinl: Musik aus Wien. Völkischer Beobachter, 14. 12. 1943

[16ib: Strauß-Geburtstags-Konzert der Philharmoniker. Völkischer Beobachter, 12. 6. 1944

[17Dr. Friedrich Bayer: Konzerte. Völkischer Beobachter, 10. 6. 1944

[18Dr. F. Bayer: Strauß-Zyklus der Staatsoper. Letzter Abend: ‚Daphne‘. Völkischer Beobachter, 17. 6. 1944

[19Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 6. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1996, S.359

[20Vgl. hierzu Hans u. Rosaleen Moldenhauer: Anton von Webern. A Chronicle of His Life and Work. New York 1979, S.391, 395, 473

[21Es müßte einmal untersucht werden, inwiefern die vielfachen und erfolgreichen Bemühungen im Umkreis des nichtjüdischen Schönberg-Schülers Erwin Ratz, die von den Nazis Verfolgten während des Dritten Reichs zu unterstützen und zu verstecken, etwas mit der politischen und moralischen Bedeutung zu tun haben, die von der Musik der Zweiten Wiener Schule — ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der falschen Versöhnung der Kultur — eben nicht zu trennen ist. Die Wirkung Schönbergs ist gerade darin der von Karl Kraus sehr nahe. Vgl. hierzu das Gespräch mit Herta Blaukopf, das Renate Göllner geführt hat und in der Zeitschrift Zwischenwelt (2/2002) unter dem Titel „Leben und Überleben im Dritten Reich — Über das unterirdische Fortwirken der Schönberg-Schule“ erscheint.

[22Weinheber, Sämtliche Werke, Bd.2, S.530

[23Ebd. S.468

[24Ebd. S.532

[25Ebd. S.530

[26Ebd. S.531

[27Vgl. hierzu: Eike Geisel, Henryk M. Broder: Premiere und Pogrom. Der Jüdische Kulturbund 1933-1941. Texte und Bilder. Berlin 1992